
Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe wurde am 8. September 1831 geboren. Er verbrachte die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens in einer Anzahl kleinerer Städte zwischen dem Weserbergland und Wolfenbüttel, denn die Familie folgte den wechselnden Arbeitsplätzen des Vaters und musste oft umziehen. Seine Kindheit mit den Eltern war glücklich; als Jugendlicher aber kam er mit der provinziellen Kleinbürgergesellschaft nicht zurecht. Für ihn waren diese Erwachsenen zu streng, zu ungebildet und zu schlecht organisiert. So schaffte er am Ende weder das Abitur noch eine Buchhändlerlehre.
Sein Leben änderte sich, als er 23 Jahre alt wurde und nach Berlin zog. Als Gast hörte er philosophisch-historische Vorlesungen an der Universität. Im Hörsaal begann er mit der Niederschrift eines Romans über das Schicksal der kleinen Leute in der Berliner Spreegasse, in der er damals wohnte. Er schilderte höchst ernste Lebensentwürfe, arbeitete mit einer komplexen Zeitstruktur, mit eingebundenen Dokumenten und Traumschilderungen, aber gelesen und geliebt wurde „Die Chronik der Sperlingsgasse“, weil sie als heiter-biedermeierliche Idylle aufgefasst wurde.
Mit diesem Erfolg kehrte er nicht nur stolz in die Heimat zurück, er nahm sich auch vor, zukünftig als Schriftsteller seinen Lebensunterhalt und den seiner künftigen Familie zu verdienen. Er arbeitete fleißig, nun an historischen Erzählungen, heiratete und zog nach Stuttgart. Sein Roman „Der Hungerpastor“ (sieben Jahre nach der „Sperlingsgasse“) wurde sein zweiter großer Erfolg, sein größter. Raabe schätzte das intellektuelle Klima Stuttgarts, konnte sich aber bald den Aufenthalt dort nicht mehr leisten, weil weitere Erfolge ausblieben. Er musste zurück in die Provinz. In Braunschweig wohnte er bis zum Lebensende. Seine zahlreichen folgenden Romane und Erzählungen fanden kaum mehr Leser.
Zehn Jahre vor seinem Tod stellte er resigniert das Schreiben ein. Jetzt halfen ihm Freunde, die seine frühen Erfolgsromane erneut auf den Markt brachten. Erneut wurde er populär, erneut gefeiert als der heitere Beobachter beschaulicher Winkel. Sogar eine Wilhelm-Raabe-Gesellschaft wurde gegründet, die sich bis heute um den Erhalt seines Ansehens bemüht.
Der Autor starb am 15. November 1910. Als das Kultusministerium fünfzehn Jahre später der Lüneburger Mädchenschule, die gerade in die Trägerschaft des Landes übergegangen war, seinen Namen zuwies, geschah dies ohne weitere Angaben. Wir wissen nicht, ob das Ministerium nur den Namen eines 1925 noch immer leidlich bekannten Provinzpoeten für angemessen hielt. Vielleicht trug da auch jemand Verantwortung, der Wilhelm Raabes umfangreiches Spätwerk schon damals kannte und schätzte.
Die Literaturwissenschaft jedenfalls bewertet ihn erst seit ein paar Jahrzehnten neu und berücksichtigt dabei hauptsächlich die Romane und Erzählungen aus seinen letzten fünfunddreißig Arbeitsjahren. Sie zeigt ihn seitdem als wachsamen Kämpfer, der den Niedergang bürgerliche Ideale beschrieb, die Konflikte der industrialisierten Welt vorwegnahm, den Umweltschutz zum Thema machte und die überkommene Bildung infrage stellte. Bedeutende angelsächsische Autoren werden vergleichend genannt. Sie würdigt seinen Einsatz gegen die philisterhaft enge Bürgerwelt und für die aufklärerischen Ideale autonomer Menschlichkeit. Sie erkennt seine frühe Beschäftigung mit Beeinträchtigungen verbaler Kommunikation an, die in der Dichtung anderswo meist erst im 20. Jahrhundert zum Thema wurden.
Wir können also ganz schön stolz sein auf unseren Wilhelm Raabe, auch wenn seine sehr komplexen Erzählweisen, die skurrilen Hauptfiguren und der schiere Textumfang einen neuen Publikumserfolg wohl zuverlässig verhindern werden.
Werner Krone